Berichte

BZ-Teststreifen - nur in Schilda?

Frau Schildine ist eine ältere Dame mit Typ 2 Diabetes, der mit Diät und Tabletten behandelt wird. Sie misst ihren Blutzucker mit einem Testgerät, wie man es ihr empfohlen und wie sie es von der Diabetesberaterin gelernt hat - zwar nicht regelmäßig, aber immer dann, wenn sie nach einer Mahlzeit unsicher ist und meint, dass der Wert zu hoch sein könne, da sie eventuell etwas zu viel oder etwas falsches gegessen habe. Sie misst dann, um zu sehen, ob sie wohl alles richtig gemacht hat, und lernt bei überhöhten Blutzuckerwerten diese Fehler in Zukunft zu vermeiden.

Im Großen und Ganzen ist Frau Schildine mit ihren Blutzuckerwerten zufrieden und ihr Hausarzt auch. Beim letzten Hausarztbesuch hat sie ein neues Rezept über Blutzuckerteststreifen für ihr Blutzuckergerät MOBIL erhalten. (MOBIL heißt es nicht, weil es Räder hat und fährt, sondern weil man es in der Handtasche bequem mit sich führen kann.)

In der Rathaus-Apotheke, in der Frau Schildine seit Jahren ihre Medikamente und Teststreifen kauft, werden ihr aber statt MOBIL-Teststreifen andere Teststreifen und ein modernes neues Blutzuckermessgerät empfohlen, dessen Vorteile beredt geschildert werden. Frau Schildine ist zwar mit ihrem MOBIL-Gerät zufrieden, zumal auf dem Display die Werte so groß sind, dass sie nicht nach ihrer Lesebrille suchen muss. Aber schließlich lässt sich Frau Schildine von der Apotheke überzeugen - und hat ein neues Gerät mit neuen Teststreifen. (Das alte Gerät und den Rest alter Teststreifen hebt sie als sparsames älteres Semester natürlich auf.)

Beim nächsten Hausarzt-Besuch erhält sie wieder ein Rezept für Teststreifen. Einige Tage später kommt Schildinchen, ihre achtjährige Enkelin, zu Besuch. Die Großmutter gibt Schildinchen das Rezept mit und bittet ihre Enkelin, deren Mutter möge doch die Teststreifen für sie besorgen. Es ist Herbst, es hat geregnet und nasses Laub liegt auf der Straße. Ihr Hausarzt hat Frau Schildine eingeschärft - wie allen älteren Damen - bei Glatteis und feuchtem Laub daheim zu bleiben und Besorgungen möglichst zu vermeiden, um nicht zu stürzen.

Ihre Tochter will das Rezept in der Bahnhofs-Apotheke einlösen, an der sie jeden Tag vorbeigeht. Sie arbeitet außerhalb der Stadt als Sekretärin. Sie muss vom Bahnhof mit dem Vorortzug etwa 20 Minuten dorthin fahren. Nach Dienstschluss hat sie es immer eilig, denn sie muss noch einkaufen und außerdem rechtzeitig Schildolein, ihren vierjährigen Sohn, von der KITA abholen. (KITA heißt Kindertagesstätte.) Deswegen geht die Tochter in die Bahnhofs-Apotheke. Dort erklärt man ihr, dass es ganz neue Blutzucker-Messgeräte mit ganz neuen Teststreifen gibt, usw., usw. Die Tochter hat es eilig, denkt an die KITA, zu der sie sowieso schon zu spät kommen wird, hört nur mit halbem Ohr zu, als ihr das neue Gerät ausführlich vorgestellt wird, ist froh, dass diese langen Erklärungen endlich überstanden sind, bestätigt, dass sie alles verstanden habe und eilt mit Teststreifen und Gerät davon. (Da es viele neue Testgeräte gibt, erhält die Tochter ein anderes Gerät von der Bahnhofs-Apotheke als die Mutter zuvor in der Rathaus-Apotheke.) Daheim gibt sie das neue Gerät mit den neuen Teststreifen Schildinchen, die es zu ihrer Großmutter bringt. Die Großmutter seufzt leise: „Schon wieder ein neues Gerät und neue Teststreifen, wo ich doch mit meinem alten MOBIL-Gerät so gut zurechtgekommen bin. Jetzt habe ich drei Geräte und drei Sorten Teststreifen.“ Schildinchen versteht nicht recht, warum sich ihre Großmutter über das schöne neue Gerät so gar nicht freut und berichtet das ihrer Mutter, die sich nun auch nicht freut, dass sich ihre Mutter nicht gefreut hat.

Einige Tage später wird die Tochter plötzlich in das Büro ihres Chefs gerufen. Es sei angerufen worden, mit der Mutter sei etwas passiert. Die Nachbarin der Mutter, auch eine ältere Dame, berichtet am Telefon, dass der Notarzt soeben ihre Mutter ins Krankenhaus gebracht habe. Was genau sei, wisse sie nicht; der Notarzt wohl auch nicht. Denn er habe gemurmelt, was denn jetzt wieder sei. Beim letzten Mal habe sie nicht verstanden gehabt, dass die kleinen roten Tabletten jetzt die großen weißen seien, aber aus Ersparnisgründen mit der doppelten Dosis, die man deswegen durchbrechen müsse....

Ja, es ist doch gut so, dass es diese Probleme nur in Schilda, nicht aber bei uns gibt?!

Ihr Prof. Dr. Peter Bottermann